Abkehr von Selbstdarstellung, Rückkehr zum Inhalt

Trotz seiner 25 jungen Jahre tritt Tim Nusser bereits zum zweiten Mal als Bundestagskandidat an. Dass er auf Wahlplakaten zu sehen ist, ist ihm meist unangenehm. „Es gehört aber dazu“, sagt er, das sei Teil des Wahlkampfs. Lieber ist ihm jedoch die inhaltliche Auseinandersetzung, das direkte Gespräch – als analytischer und mehr introvertierter Mensch, der er sei.

Tim Nusser tritt bereits zum zweiten Mal als Bundestagskandidat an. Für das Direktmandat geht er als „Underdog“ ins Rennen.

„Auch Politik braucht Zahlenmenschen“ ist ein Slogan des FDP-Politikers Otto Fricke, den Tim Nusser gerne leiht. Evidenz, Wissenschaft und Evaluation sind die Basis, auf die er seine Politik baut. Privat packt er gerne mit an im Stadtteilverein von Heidelberg-Schlierbach. Seit sechs Jahren – mit einem Jahr Unterbrechung – wohnt er dort. „Hier habe ich Wurzeln geschlagen“, sagt er. Er genießt die Ruhe bei Spaziergang und Podcast etwa, vor allem aber den gemeinschaftlichen Charakter. Als einziger Stadtteil ist Schlierbach nicht im Gemeinderat vertreten, erzählt er. „Das spiegelt sich in der Geschwindigkeit, in der Probleme im Stadtteil angegangen werden. Aber Schlierbach macht das wett, indem sich alle Leute untereinander helfen.“ Unabhängig der politischen Orientierung. Nicht nur dort, hat er den Eindruck, überhaupt entlang der Bergstraße hilft man sich. Hier fühlt er sich wohl, für die Menschen hier will er sich einsetzen.

Familiärer Einfluss

Geboren wurde Tim Nusser in Freiburg im Breisgau. Dort wuchs er „teilweise“ auf, wie er sagt, den anderen Teil in einer kleinen Gemeinde am Kaiserstuhl. Früh hat er „die andere Seite“ des Gesundheitssystems erlebt, sein Vater ist Pfleger auf einer psychiatrischen Station, seine Mutter Ärztin beim Medizinischen Dienst der Krankenkassen. Daher rühre auch sein Verständnis für Menschen, die „ohne eigenes Verschulden in die Misere geraten“. Er habe, wenn auch anonymisiert, die Geschichten und Schicksale der Menschen mitbekommen. Nach der frühen Scheidung seiner Eltern waren es auch die Großeltern, die ihm den Wert der Nächstenliebe vermittelten. Er selbst ist bekennender Katholik, schätzt Eigenverantwortung, aber auch Gemeinschaft. Sich nicht verstecken, selbst anpacken, für andere und die eigenen Träume, so sei es ihm vorgelebt worden, sagt Nusser.

Werdegang

Das Abitur legte Nusser in Freiburg ab. Dort absolvierte er auch ein gemeinnütziges Jahr im Rathaus, bei der Stabsstelle für Bildungsmanagement. 2015 folgte der Umzug nach Heidelberg, an der Universität schrieb er sich für American Studies ein. Ein Stipendium führte ihn dann nach Oxford, wo er seinen Master in International Relations abschloss. Zurück in Heidelberg widmet er sich beruflich derzeit dem Projektmanagement auf dem Feld der Entwicklungszusammenarbeit. Ungewöhnlich war sein Weg in die Politik. Noch während der Schulzeit trat Nusser 2013 der FDP und den Jungen Liberalen bei. „Ich wurde von Haus aus nicht politisiert. Meinen Eltern war es nur wichtig, dass ich mich informiere“, sagt er. Eine Sportverletzung bescherte dem politisch interessierten Jungen auf einen Schlag viel Zeit – und er machte Politik zu seinem Hobby. Dass er in der FDP lande, war ihm zunächst nicht klar. „Freiburg war überwiegend Grün“, blickt er zurück. Als die FDP 2013 an der Fünfprozenthürde scheiterte, war auch das keine Sternstunde der Liberalen. Für ihn aber zählten Inhalte. „Ich habe mir damals gesagt: Du liest dir alle Grundsatzprogramme der wichtigen demokratischen Parteien durch – nicht das Wahlprogramm. Und dort, wo am meisten übereinstimmt, trittst du ein.“

FDP

Überzeugt war er von den liberalen Grundwerten, mit Ausgestaltung und Personen jedoch nicht immer einverstanden. Dass Christian Lindner die Sondierungsverhandlungen 2017 abbrach, konnte er zunächst nicht begreifen. Erst im Dialog mit Anwesenden verstand er, wo das Misstrauen gegenüber die Union lag. „Wenn wir Regierungsbeteiligung haben, dann wollen wir Maßnahmen mit klarer liberaler Handschrift sehen“, ist er überzeugt. Doch er gesteht: Die Kommunikation damals sei „beschissen“ gewesen, das „schlechtmöglichste Bild“ wurde vermittelt. Das Auftreten habe sich gebessert, dennoch müsse man hier deutlich aufholen. Kritik, auch an der eigenen Partei, sieht er als Teil politischen Fortschritts; wenn man sich auf den Inhalt rückbesinnt und nicht alles persönlich nimmt. In diesem Jahr ist das Ziel klar: Regierungsbeteiligung. Je mehr Koalitionen möglich sind, desto besser die Position seiner Partei, so Nusser. Für das Ziel betreibe er den Wahlkampf. Vor allem aber für die Menschen im Wahlkreis.

Die Region vertreten

Als Kandidat bewegt er sich in einem Feld aus erfahrenen Mitstreiter*innen. Auf der Landesliste steht er auf Platz 22, für das Direktmandat geht er eher als „Underdog“ ins Rennen. Wie bereits bei der Wahl 2017, wo er für Überraschung sorgte, als er bei den Erststimmen etwas unter dem Landesschnitt lag, bei den Zweitstimmen den Schnitt genau traf. „Wir haben relativ viele junge Menschen im Wahlkreis“, gibt er an. Doch nicht nur für sie möchte er Politik machen, sagt Nusser. Oft werde er auf sein Alter angesprochen, er verstehe, dass Erfahrung in Politik und Leben ein Wahlkriterium ist. Aber eben nur eines, er versuche mit Inhalten zu überzeugen.

Digitalisierung

Digitalisierung ist für Nusser kein isoliertes Thema, er „warne“ sogar davor, es als solches zu sehen. Bildung und Arbeit seien stark damit verschränkt – und in allen diesen Bereichen besteht Nachholbedarf. Digitale Behördengänge, Glasfaserleitung in Unternehmen und angemessene Ausstattung in Schulen müssten Standard sein, so Nusser. „Es liegt nicht am Geld“, sagt er, mit dem Digitalpakt Schule hat der Bund ein Förderprogramm aufgestellt. Bürokratische Hürden gelte es abzubauen: „Wenn in drei Jahren nur zwölf 12 Prozent des Volumens abgerufen wird, kann was nicht stimmen.“ Erst unter dem Joch der Pandemie habe sich gezeigt, dass es doch möglich ist.

Corona-Hilfen und Wirtschaft

Beim Thema Corona-Hilfen sieht er den Staat in der Pflicht; nach dem Motto: Wer schließt, der hilft. Um eine Insolvenzwelle zu verhindern, müssten in den kommenden zwei, drei Jahren weitere Hilfen gestellt werden – die schneller, mit weniger Bürokratie ankommen. Das lange speziell Unternehmen an, die nicht lange gewirtschaftet und Rücklagen gebildet haben. Bis die haushaltspolitische Debatte angestoßen wird, müssten „begründete“ Bereiche unterstützt werden. Nicht fair findet er eine Alimentierung der Großunternehmen. Wichtiger seien Hilfen für den Mittelstand, dem „Herz der deutschen Wirtschaft“. Hier müssten Chancen eingeräumt werden, fordert Nusser, durch Hilfen bei digitalem Ausbau oder staatlichem Fachkräfteausgleich, auch aus dem Ausland.

Gesundheit

Die Herausforderungen des Gesundheitssystems hat Nusser von Haus aus miterlebt. „Der Druck, der auf den Ärzten und Pflegern liegt ist je nach Krankenhaus und Station verschieden“, sagt er. Was alle gemein haben, ist fehlende Wertschätzung. Eine Reform des Systems und Anreize, damit Menschen wieder Gesundheitsberufe ausüben wollen, seien längst überfällig. Dazu möchte er psychische Erkrankungen aus dem Schatten des Tabus herausholen. Es braucht einen Ausbau der schnellen und leicht zugänglichen Hilfe, sei es für Kinder, Studierende oder Erwachsene.

Klimaschutz

Eine inhaltliche „Besserung“ bescheinigt er dem Parteiprogramm, das in diesem Jahr den Klimaschutz mit aufgenommen hat. Das Bekenntnis zum 1,5-Grad-Ziel gebe eine strikte Ausrichtung vor, so Nusser. Als Mittel, die Ziele zu erreichen, eigne sich ein Zertifikatshandel: Der Staat müsse vorgeben, wie viele Tonnen CO2 ausgestoßen werden dürften, sukzessiv würde dieser Wert hinabgesetzt. Der wirtschaftliche Anreiz würde die Unternehmen effizienter machen. Um mittelständische Unternehmen zu stärken, sieht er Unterstützung des Staats. Ein Kohleausstieg indes sei nicht „effizient“, argumentiert er; anstatt Milliarden Euro an Entschädigungen zu zahlen, nutze man das Geld besser für innovative Forschung.

Wohnungsnot

Ein Marktversagen im Wohnungsmarkt sieht er nicht – im Gegenteil: „Der Wohnungsmarkt ist einer der am stärksten regulierten Märkte.“ Dennoch gibt er zu, dass es „Marktsache“ ist, wenn die Nachfrage das Angebot übersteigt. Der Staat aber verhindere, dass Angebot geschaffen würde. Ein Problem sieht er in den scharfen Bauauflagen, welche die Wohnbaukosten zusätzlich in die Höhe trieben. Auch der Konflikt mit dem Klimaschutz sei ihm bewusst. Nur müsse man abwägen: „Ist es wichtiger, dass Menschen ein Dach über dem Kopf haben, oder dass die Wände ein paar Zentimeter stärker gedämmt sind.“ Den Staat sieht er in der Pflicht, eine Quote für sozialen Wohnungsbau vorzugeben. Problematisch sei jedoch die Einkommensklasse, die über dem Berechtigungsanspruch, aber unter dem mittleren Einkommen lägen. Eine Ausweitung des Wohngelds schaffe schnelle Abhilfe, sei auf Dauer aber keine Lösung, wegen Einpreisung und Inflation. „Es gibt keine einfache Lösung, und schon gar keine von heute auf morgen“, sagt er. Die Bedingungen müssten sich ändern, und es müsste mehr effizienten Wohnbau geben. (jb)

Drei Fragen, drei Antworten

Was ist die oberste Maxime Ihrer Politik?
Anhand von Fakten realistische Politik machen, die den Menschen nicht nur durch Symbole hilft.

Was ist Ihre Kernkompetenz – persönlich und politisch?
Politisch: meine Analysefähigkeit. Probleme sehen, herunterbrechen und in gangbarem Weg verändern. Persönlich: In andere Menschen denken und wirklich verstehen, was vorgeht; und Verständnis für schwere Situationen.

Warum Bundespolitik?
Weil man den größten Hebel hat. Bundespolitik setzt den Rahmen, man hat den größten Einfluss, dass es Kommunen und Menschen gut geht.

In Persona

Dennis Tim Nusser, Jahrgang 1996, legte 2014 sein Abitur am Wentzinger-Gymnasium in Freiburg ab. Nach einem Gemeinnützigen Bildungsjahr studierte er in Heidelberg American Studies mit Schwerpunkt Geschichte und Geografie, in Oxford International Relations; derzeit
arbeitet er in der Projektsteuerung von Entwicklungszusammenarbeit. Er ist stellvertretender
Kreisvorsitzender der FDP Heidelberg.

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